Jale Maria Gönenc

Kunst und Wissenschaft

„Der Geist der Zeit ist wahrscheinlich ein ebenso objektives Faktum wie irgendeine Tatsache der Naturwissenschaft und dieser Geist bringt gewisse Züge der Welt zum Vorschein, die selbst von der Zeit unabhängig sind und in diesem Sinne als ewig bezeichnet werden können. Der Künstler versucht in seinem Werk diese Züge verständlich zu machen, und bei diesem Versuch wird er zu den Formen des Stils geführt, in dem er arbeitet. Dabei sind die beiden Prozesse in der Wissenschaft und in der Kunst nicht allzu verschieden. Wissenschaft und Kunst bilden im Laufe der Jahrhunderte eine menschliche Sprache, in der wir über die entfernteren Teil der Wirklichkeit sprechen können, und die zusammenhängenden Begriffssysteme sind ebenso wie die verschiedenen Kunststile gewissermassen nur verschiedene Worte oder Wortgruppen in dieser Sprache.“
   Werner Heisenberg (aus 'Naturwissenschaft und Kunst')

„Ist die Zeit heute reifer, um deutlich zu zeigen, auf welch verwandte Weise der Künstler und der Wissenschaftler arbeiten und wie nahe beieinander? Sind die Bedingungen günstiger?“
„Niemand vermag es zu sagen. Aber ganz sicher scheinen die Voraussetzungen auf Seiten der Wissenschaften – jedenfalls in einigen Disziplinen eher gegeben zu sein. Diesmal könnte das Angebot von ihnen ausgehen, über die möglichen Verbindungen zwischen den Methoden der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit gemeinsam nachzudenken.
„Einiges weist in diese Richtung:“ Muster, Metapher, Bild, Form, Gestalt, Beziehungen – diese Begriffe selbst sind es, die verbinden könnten. Nicht nur Wissenschaft und Künste, sondern ebenso Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, also „sciences“ und „arts“. Wer sich mit Mustern und Gestalten beschäftigt und in Beziehungen denkt, wird dahin kommen gleichzeitig streng und phantasievoll vorzugehen, exakt und unscharf zu beobachten, abstrakt Formalisierbares und sinnlich Wahrnehmbares zu erkennen, quantitativ und qualitiativ zu arbeiten, das regelhaft Allgemeine und das abweichend Besondere zu erfassen.
„Muster“, „Gestalt“ und „Beziehungen“ sind also keine „Einheitsbegriffe“, die alle Unterschiede einebnen oder wegzaubern, sondern „Brücken-Begriffe“. Sie ermöglichen eine Annäherung an bislang getrennte oder sogar als gegensätzlich empfundene Arbeitsweisen von verschiedenen Seiten aus. Es sind Begriffe, auf die sich die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen beziehen können, wenn sie miteinander in Beziehung treten. Ich spreche von Brücken-Begriffen, von Annäherung und Verbindungen, nicht von Identität und Verschmelzung. „Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Unterschiede zwischen den Methoden der verschiedenen intellektuellen Disziplinen und ihren „Kulturen“, vor allem zwischen der Kultur der Naturwissenschaften und der Kultur der literarischen Intelligenz zu überwinden oder sogar gänzlich aufzuheben…“

   Bernhard Mutius: Die andere Intelligenz, S. 20/21. Stuttgart 2004 (3. Auflage)

'Die andere Intelligenz'

Bernhard Mutius: Die andere Intelligenz, S. 40/41. Stuttgart 2004 (3. Auflage)

Mutius - Die andere Intelligent
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