JG:
Das ist das, was ich nicht will, weil die Gefahr gross ist, dass das, was Brecht beschreibt, immer wieder missverstanden wird. Es ist an sich schwierig, verstanden zu werden, aber er hat jetzt alle Spuren gelegt, um missverstanden zu werden, weil man sich zuerst die Schrift anschaut und dann das Theater von den Schriften aus interpretiert, statt erstmal das Theater wirken zu lassen und dann in die Theorie zu gehen, was ja eigentlich natürlich wäre, denn Theorie kommt von der Praxis.
MG:
Was soll die Fibel?
JG:
Die Fibel ist einen momentaner Überblick, für den Zeitpunkt, wo ich jetzt gerade bin, mein Verständnis, Nichtverständnis und Unverständnis über Theater.
MG:
Eine Art Baukasten?
JG:
Ja, eine Art Baukasten, der einfach bewirken darf, dass man mit Worten spielt, die natürlich immer ein Gefüge sind: Tiefenstruktur haben - und selber forschend wird. Worte, die für mich mit Theater zu tun haben. Jemand anderes hat vielleicht ganz andere Worte. Aber vielleicht wird er durch diese Worte angeregt zu überlegen, wie Theater aussehen kann ... „Warum sagt sie das?“ „Warum steht das in diesem Zusammenhang?“ ... im Grunde selber auf eine Reise zu gehen.
MG:
Soll die Fibel auch deinen Stand verdeutlichen? Deine Position? Hast du eine Position?
JG:
Hab ich eine Position?
MG:
Was Theater sein soll? Was Theater für dich ist? Was der Zeitgeist ist und wohin er sich entwickeln sollte, könnte?
JG:
Ich hab nicht so sehr eine Position davon, was Theater ist, weil für mich Theater doch eine bewegliche Angelegenheit ist. Aber Theater hat nahe mit dem zu tun, wie ich mich als Mensch entwickle. Weil für mich momentan Theater die Beschäftigung mit dem Menschen ist.
Nicht so sehr mit der Rolle, sondern die Beschäftigung mit dem Menschen.
MG:
Stichpunkt Entwicklung. Menschentwicklung. Menschwerdung. Was meinst du damit?
JG (lacht)
Ich muss ein bisschen graben, ein bisschen überlegen, weil pffff. Also ich kann ... wie gesagt, ich möchte das gerne betonen, das ist mein momentaner Stand, der, wenn du mich nächste Woche fragst, auch ein anderer sein kann. Aber nie komplett anders.
MG:
Ich frage dich, weil das schon Positionen sind, die du einfach hast, zu denen du etwas zu sagen hast. Fundiert. Fundierte Positionen.
JG:
Mensch, das ist so viel, weißt du.
MG:
Du sagst, Theater hat was mit Menschwerdung zu tun.
JG:
Wie ich Theater gelernt habe, ist das ein permanenter Prozess. Bei meiner grossen Lehrerin lernte ich und lerne dabei weiter nicht bei der Rolle anzusetzen, sondern beim Menschen. Das ist für mich ein grosser Unterschied.
Es ist immer noch Gang und Gäbe bei der Rolle anzusetzen.
MG:
Schauspiel bei dir setzt nicht bei der Rolle, sondern beim Menschen an.
JG:
Genau.
MG:
Was kann ich mir darunter vorstellen?
JG:
Beim Menschen heißt, dass du immer bei dir ansetzt, bei dir anfängst, bei den Grundfragen: Was bedeutet Mensch? Nicht so sehr nur bei den Bildern. Rollen sind ja oft Bilder, die durch Archaiken oder durch Mode, durch Kultur, was auch immer Frau Mann tralala entstehen. Dadurch sind sie auch veränderbar.
MG:
Rollen sind veränderbare Bilder?
JG:
Ja, in Thailand z.B. spielt es, wenn du Mann und Frau in einer Person bist, eine ganz andere Rolle als bei uns. Schwulsein im Iran spielt eine ganz andere Rolle als in Köln, sag ich jetzt mal. Das ist eine bewegliche Angelegenheit. Und auch Frau und Mann sind bewegliche Angelegenheiten, nicht dass der Mensch auch eine bewegliche Angelegenheit ist, aber wir denken zu wenig über den Menschen nach, weil er selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Aber was ist das? Ich kann jetzt nicht sagen: Das ist es, denn das gilt es zu erforschen. Was ich sagen kann, ist, dass der Mensch etwas Lebendiges ist. Etwas Lebendiges und er steht in Beziehung. Zu was steht er in Beziehung? Das sind die Fragen, die ich habe. Wie steht er in Beziehung mit dem Universum und dem Sein? Wie kann sich das im Spiel anfühlen? Das klingt, wenn ich so rede sehr abstrakt. Werden wir also konkret. Wie fühlt sich das auf der Bühne an, die Ophelia zu spielen?
Ophelia wird als Bild benutzt, als Rolle, als Frau in einer gewissen Zeit irgendwie. Wenn ich jetzt sage, ich möchte nicht nur dieses Bild zeigen, was laufend immer gezeigt wird, sondern ich möchte diesen Menschen zeigen, dann versuche ich zu erforschen, wo gibt es da diesen Menschen, der am Schreien ist? Der in NOT ist? Da bin ich bei meiner Fibel bei N wie Not.